04.03.2013 Viele Spenden kamen aus dem Main-Tauber-Kreis. Der ehemalige Kulturbeauftragte der Schule, Thomas Tolk, berichtet.

Es herrrscht Wahlkampf in Chile. Die Regierung von Sebastian Piñera rühmt sich: Für 92% der erdbebengeschädigten Familien sei der Wiederaufbau so gut wie abgeschlossen. Doch der Bürgermeister von Talcahuano, der am schlimmsten betroffenen Stadt, warnt vor triumphalistischen Erfolgsziffern: Was offiziell als „Wiederaufbau” bezeichnet werde, bestehe oft lediglich aus roh zusammengenagelten Notunterkünften.
Die Deutsche Schule „Carlos Anwandter” im südchilenischen Valdivia ( zur Zeit des Erdbebens geleitet von Irene Eisele, der ehemalige Direktorin des Gymnasiums Weikersheim) hatte umittelbar nach der Katastrophe versucht, einen eigenen, neuartigen Beitrag zur Lösung der dramatischen Notlage zu leisten. Ein ehemaliger Schüler, der Architekt Gerardo Saelzer, entwickelte ein ganz neues Konzept für kleine Fertighäuser aus beständigem Material, die von den Bewohnern durch Anbau entsprechender Module schrittweise zu geräumigen Wohneinheiten erweitert weden können. Durch eine grosse Spendenaktion in Chile und vor allem in Deutschland, zu der damals auch in dieser Zeitung aufgerufen wurde, konnten vier Prototypen des Fertighauses produziert und in dem besonders schwer betroffenen kleinen Ort Rere aufgebaut werden. Dabei arbeiteten Schüler, Eltern und Lehrer der Deutschen Schule mit den künftigen Bewohnern Hand in Hand zusammen, und so konnten nach zwei Tagen vereinter Anstrengung vier besonders hart getroffene Familien ihr neues Heim beziehen. Das war für alle Beteiligten eine bewegende, unvergessliche Erfahrung.
Kurz vor dem dritten Jahrestag der Katastrophe fahren wir nach Rere um zu sehen, was aus dem Projekt der Deutschen Schule Valdivia geworden ist.
Der erste Eindruck: Es gibt in Rere Fortschritte. Einige Strassen wurden asphaltiert, manche Häuser neu gebaut, alte renoviert und mit neuem Anstrich vesehen, der Friedhof hat eine neue Umfassungsmauer, am Ortsrand steht eine große neue Mehrzweckhalle. An der Plaza stehen wie früher die alten Bäume, das O’Higgins-Denkmal, der Kirchturm. Doch der zweite Blick zeigt: Hier im alten Zentrum des Dorfes sind die Spurene des Erdbebens noch unübersehbar: Das einst elegante Pfarrhaus steht in schlimmerem Zustand da als 2010, Mauern brechen aus, vom Dach hat man die Pfannen herabgeholt und droben Plastikfolien ausgebreitet. (Foto 1: P 0216 Das alte Pfarrhaus in schlimmem Zustand) Man entdeckt leer stehende unbewohnbare Häuser, bei denen zunächst nur Risse im adobe-Mauerwerk sichtbar sind. Manche Ruinen wuden nur zum Teil abgerissen. (Foto 2: DSCF 6029 Eine Ruine, seit 2010 unverändert).
Manche Geschädigte haben das Wiederaufbau-Programm der Regierung genutzt. Doch nur wenige von den einfachen Leuten waren gewieft genug, um an das staatliche Geld für solche Projekte heran zu kommen. Schon für eine der primitiven Hütten aus Holzbrettern musste man Anträge stellen, nachweisen, dass man bedürftig war, dass man nicht bei Angehörigen unerkriechen konnte– und all das dauerte.
Uns interessieren die vier Häuser, die von der Schule im Mai 2010 erbaut und übergeben wurden.
Don Luis Matamalas Haus steht hinter einem Mauerrest des ehemaligen Familienwohnhauses. Nachdem wir ihm den Grund unseres Besuchs erklärt haben, lässt er uns herein. Er ist schweigsam, verschlossen – so wie ihn die Arbeitsgruppe seinerzeit auch erlebt hat. Hinter dem Häuschen liegt ein größerer „patio” (Hof) mit Bäumen und Büschen, dazu mehrere Holzschuppen. Wir sehen das Häuschen jetzt von hinten, der Küchenanbau aus transparentem Material funktioniert als Waschküche, die Wasserinstallation ist tadellos. Neben dem Haus hat Don Luis ein separates Küchenhäuschen mit offenem Holzherd gebaut, dort hängen Regale mit Vorräten und Küchengeräten. Wir betreten das Haus und haben den Eindruck: Das Material und die Bauweise haben sich bewährt. Es gibt keine Verfallsspuren, wie sie für die seinerzeit üblichen Notunterkünfte („Mediaguas”) typisch sind. Don Luis hat den rechteckigen Innenraum durch einen Vorhang in ein Schlafabteil und einen Wohnraum aufgeteilt, im Wohnraum stehen ein Sofa und zwei Sessel, an den Wänden finden sich Dinge des täglichen Bedarfs wie der Motorradhelm.
Don Luis ist zufrieden mit der Konstruktion, er hat sie seinen Bedürfnissen angepasst. Don Luis begleitet uns zum nächsten Häuschen, das ganz in seiner Nähe für Don José Riveras und seine zwei Kinder errichtet wurde. Der Eigentümer ist bei der Arbeit, aber sein inzwischen 15-jähriger Sohn ist zu Hause und empfängt uns. (Foto 5 DSCF 6025: Don Josés Sohn an der Tür).Wir finden das Haus an eine andere Stelle versetzt, an der mehr freier Platz zur Verfügung steht. Die Innenausstattung ist absolut nüchtern: Ein Bett für den Vater, eins für den Sohn (die Tochter lebt jetzt selbständig), ein Stuhl und ein kleiner Tisch, an der Wand ein Regal. Zwei gerahmte Diplome dokumentieren: Die Tochter hat das Abitur bestanden, der Sohn die 8.Klasse beendet und den Zugang zur Oberstufe erreicht. Ein Wasserhahn befindet sich vor dem Haus im Freien, eine Kochstelle ist nicht sichtbar – der Vater isst an der Arbeitsstelle, die Kinder in der Schule bzw. in der Mensa. Ein funktionales Haus, das zur Erledigung von Hausaufgaben und zum Schlafen dient. Das reicht.
Sra. Francisca („Panchita”) Lara lebt im dritten Häuschen. Sie hat den vorhandenen Platz genutzt um einen Anbau zu errichten, der als Wirtschaftsraum dient. Mit den transparenten Plexi-Platten des Dachs, die durch Zink ersetzt wurden, konnte sie einen überdachten Hof hinter dem Haus einrichten, der durch einen steil ansteigendenden Hang begrenzt wird. Dort finden wir eine Feuerstelle, über der Fleischstücke zum Räuchern hängen, daneben ein Tisch für Küchenarbeit und ein grosses Regal mit allen Küchenutensilien. Sra. Panchita hat sich so ein wohlgeordnetes, geräumiges Umfeld geschaffen.
Auf einem Hügel liegt das Heim von Sra. María Hortensia („Tencha”) Herrera, einer kleinen Frau von über 70 Jahren. Sra. Tencha steht neben dem Haus im Freien. Langsam näherte sie sich, ihre Gehbehinderung ist deutlich. Wir erklären unser Anliegen, Grüsse von der Deutschen Schule zu überbringen und uns zu erkundigen, wie es ihr mit ihrem Haus geht. Nun erklärt sie uns, wie schwierig ihre Lage durch einen fortschreitenden Diabetes ist. Sie zeigt voll Stolz auf die Zinkplatten, mit denen sie das ganze Häuschen hat verkleiden und das Dach decken lassen. So sei das Haus dauerhaft gegen Wind und Regen geschützt, die im Winter unbarmherzig gegen das Haus anstürmen. Sie hat, so wie Gerardo Saelzer das vorgeschlagen hatte, an die Rückseite des Hauses einen Anbau in derselben Grösse und Abmessung wie das ursprüngliche Haus bauen lassen, und darüber hinaus, auf Abstand, noch einen geräumigen Schuppen gestellt. Auf diese Art kann ihr Haus ohne weiteres mit den Neubauten links und rechts mithalten.
In Deutschland ist es kaum vorstellbar, wie man in einem Haus mit 2,5m x 8m Grundfläche leben kann. Wir haben bei unserem Besuch in Rere erfahren, wie einfache Menschen, die alles verloren hatten, ihren Neuanfang gestaltet haben, indem sie die Chance genutzt haben, die die Deutsche Schule ihnen geboten hat: Sie haben ihr künftiges kleines Haus achtsam mit aufgebaut, um es danach immer mehr ihren eigenen Bedürfnissen anzupassen. So bleibt als Ergebnis, dass das Wiederaufbau-Projekt der Deutschen Schule Valdivia sein wichtigstes Ziel erreicht hat: nämlich in einer gemeinschaftlichen sozialen Aktion von Schülern, Eltern, Lehrern und vier besonders schwer betroffenen Familien nach der Katastrophe einen nachhaltigen Neuanfang zu ermöglichen.
Weitere Fotos finden Sie in der März-Fotogalerie.